Leitartikel aus unserem Gemeindebrief Juli/August 2024 von Jonathan van Veldhuizen.


Du sollst dich nicht der Mehrheit anschließen, wenn sie im Unrecht ist.
2. Mose (Exodus) 23, 2 (E)


Liebe Geschwister und Freunde,

„Sei ein lebend‘ger Fisch – schwimme doch gegen den Strom!“

Das ist ein altes Kinderlied, das in meiner Jugend häufig gesungen wurde. Ein Lied, dessen Text einfach zu verstehen, aber schwer umsetzbar ist. Wenn alle Klassenkameraden oder Arbeitskollegen über eine Person herziehen, braucht es viel Mut, um ein lebendiger Fisch zu sein. Wenn Missstände oder unangenehme Wahrheiten im Betrieb, in der Gemeinde oder zu Freunden gesagt werden müssen, dann möchte man lieber mit dem Strom schwimmen.

Der Monatsspruch im Juli handelt von genau diesem Thema:

Du sollst dich nicht der Mehrheit anschließen, wenn sie im Unrecht ist.
2. Mose (Exodus) 23, 2 (E)

So losgelöst denkt man, es ist ein allgemeiner Satz, der für das Leben zutrifft. Tatsächlich ist hier aber ein ganz spezieller Kontext gemeint: nämlich vor einem Gericht. In der Elberfelder Übersetzung wird das deutlicher:

„Du sollst der Menge nicht folgen zum Bösen. Und du sollst bei einem Rechtsstreit nicht antworten, indem du dich nach der Mehrheit richtest und so das Recht beugst.“

Dieser Vers steht nämlich im Bundesbuch (Ex. 20,22 - 23,33), wo Gott Mose und das Volk am Berg Sinai erste Gesetze gibt. Neben religiösen Bestimmungen stehen hier soziale Rechte und Rechte für Sklaven und Fremde drin. Exodus 23,1-9 behandelt dabei das Recht und das Gericht.

So ein Gericht wurde oft unter der Dorfeiche oder beim Platz vor dem Stadttor gehalten. Richter waren die Vorsteher der Familienclans, die Propheten und Beamte. Fälle innerhalb einer Familie wurden immer vom Familienvater gelöst. Probleme tauchten dann auf, wenn zwei Familien Streit miteinander hatten. Ziel des Gerichtes war es dabei, die Familien durch Ausgleich miteinander zu versöhnen. Die Familie, die Schaden erlitten hatte, musste von der Familie, die Schaden verursacht hatte, entschädigt werden.

Besonders wichtig waren dabei die Zeugenaussagen. Es brauchte drei Zeugen, damit ihre Geschichte für wahr befunden wurde. Mit nur einem Zeugen hatte man schlechte Chancen, dass seine Seite die Älteste und Richter überzeugen könnte.

Deswegen wurden Zeugen häufig mithilfe von Geldmitteln erzeugt. Viele nahmen dieses leicht verdiente Geld gerne an. Schließlich musste man ja nur eine Geschichte erzählen und schon ist man einiges reicher geworden. Gegen diese Leute richtet sich dieser Vers.

Er richtet sich auch gegen die, die ihre Zeugnisse verfälschen, weil sie nicht die mächtigen Familien gegen sich aufbringen möchten. Die „Menge“ und die „Mehrheit“ müssen nicht immer von der Anzahl her groß sein. Es können auch wenige starke und einflussreiche Personen die „Mehrheit“ sein. Den Hass einer solchen mächtigen Familie zu haben ist wirklich nicht erstrebenswert. Verharmlost man einige Details oder „biegt“ sich die Erlebnisse etwas zurecht, dann kann man mit mehr Nachsicht von der mächtigen Seite rechnen.

„Das Recht biegen“ ist übrigens ein Ausdruck, der häufig in der Bibel vorkommt. Man kann sich da leicht ein Bild vorstellen: Jemand der sich verbiegt oder beugt, der geht auch komisch. Sein Rücken ist verbogen, weil er sich vor jedem Mächtigen bücken und verbeugen muss. Hindernissen stellt er sich nicht entgegen, sondern umgeht sie geschickt. Wie anders geht da der Aufrichtige! Er geht aufrecht mit geradem Rücken. Schließlich muss er nicht mit seinem Gewissen kämpfen oder sich vor allen verbeugen. So lebt man zwar mit den Konsequenzen, dass die Aussagen einigen Leuten nicht gefallen haben, aber man hat ein reines Gewissen.

Es geht in diesem Vers also nicht um Personen, die gegen die Mehrheit sind, nur um dagegen zu sein oder weil sie ihre Meinung durchsetzen wollen. Solche Menschen gibt es zuhauf. Es heißt nicht, dass man grundsätzlich gegen die Menge oder die Mächtigen sein soll, sondern nur, wenn man weiß, dass sie im Unrecht sind.

Spannend ist, dass keine Konsequenzen für die Nichteinhaltung dieses Gesetzes gefordert werden. Es steht nicht da, dass man eine Gefängnisstrafe oder irgendeine andere Strafe bekommt, wenn man beim Lügen vor Gericht erwischt wird.

Vielmehr soll es ein Ethos sein. Eine Lebensordnung. Eine Norm, die für das ganze Volk Israel gültig sein soll. Wenn du ein gutes, erfolgreiches Leben leben möchtest, solltest du dieses Gesetz befolgen. Wenn du von Gott gesegnet werden möchtest, dann sage die Wahrheit vor Gericht und lass dich nicht von der Mehrheit beeinflussen.

Natürlich können wir für uns sagen: dieser Vers gilt für Israeliten vor etwa 3000 Jahren und in Bezug auf Gerichtsverfahren. Was hat es also mit uns zu tun?

Es hat mit uns zu tun, weil es ein Ethos, eine Norm ist, die Jesus auch angewandt hatte. Vor dem Gericht von Pilatus redete er die Wahrheit, obwohl es ihm den Tod bringen würde:

Pilatus fragte ihn: „Bist du der König der Juden?“ Er aber sprach: „Du sagst es.“ (Lk. 23,3)

Jesus ließ sich nicht von der Mehrheit der vielen Menschen beeinflussen, die ihn gekreuzigt sehen wollten. Jesus knickte auch nicht ein vor der politischen Macht von Pilatus. Ihm war die Wahrheit wichtiger. Er stand gerade, aufrichtig.

Nicht nur vor Gericht stand er so, sondern sein ganzes Leben lang. Er redete die Wahrheit, auch wenn die Menge gegen ihn war. Ihm war es einzig und allein wichtig, was Gott ihn beauftragte, zu sagen. Nie gab es so eine aufrichtige Person wie Jesus, der sich nie nach der Mehrheit gerichtet hat, sondern nur nach seinem Vater.

Natürlich ist es schwer, die Wahrheit zu sagen und für die Schwachen einzustehen, wenn die Mehrheit dagegen ist. Lieber schweigen wir. Lieber schauen wir nicht hin. Doch wir verlieren jedes Mal etwas, wenn wir uns der Mehrheit anschließen zum Bösen. Wir verlieren etwas von unserer geraden Haltung. Wir fangen an, ein „gebogenes“ Recht zu haben, ein „gebogenes“ Leben. Das ist der Preis für unser Schweigen und unser Wegschauen.

Der Preis für unser Hinschauen und dafür, dass wir die Wahrheit sagen, ist, dass wir nicht von der Mehrheit geschätzt werden. Wahrheit wird selten gerne gehört. Doch nur wer die Wahrheit sagt und lebt, wird aufrecht gehen können im Leben.

Möge Gott uns einen solch aufrechten Gang schenken und uns den Mut geben, die Wahrheit zu sagen, wenn wir Unrecht sehen!